Immer noch werden in Deutschland viele Infektionen mit HIV sehr spät erkannt, sogenannte Spätdiagnosen oder im englischen “Late Presenter” oder “Late Presentation”. In einer Studie, die von Januar 2019 bis Mitte Mai 2020 in 40 bundesweit verteilten Studienzentren durchgeführt wurde, konnten 706 Patient/innen eingeschlossen werden. Dabei zeigte sich, dass 55% der Teilnehmenden eine HIV-Spätdiagnose erhielten. (Valbert F., et al., HIV-Epidemiologie in Deutschland: Späte Diagnostik. Dtsch Ärztebl; 118 (43): A 1994-8)
Warum sind späte HIV-Diagnosen ein Problem?
Um einen günstigen Verlauf und die optimale Wirkung der verfügbaren Therapien bei HIV zu erzielen, ist es wichtig, möglichst früh damit anzufangen. Eine späte Diagnose schadet den Betroffenen und kann ein Risiko für weitere Menschen bedeuten. Die Übertragung einer HIV-Infektion auf eine andere Person ist umso geringer, je früher eine erfolgreiche Therapie eingeleitet wird. Denn Menschen unter wirksamer Therapie gelten heute als nicht infektiös. Deshalb schützt die frühzeitige Diagnose einer HIV-Infektion auch mögliche Partner und Partnerinnen bzw. Sexualkontakte.
Was genau ist eigentlich eine HIV-Spätdiagnose?
Es gibt Definitionen dafür, was Spätdiagnose bedeutet. Diese betreffen die Anzahl der CD4-Zellen bei Diagnosestellung oder auch, ob eine AIDS-definierende Erkrankung vorliegt, also das Immunsystem bereits deutlich geschwächt ist.

Was sind Ursachen für spätes Testen und späte Diagnosen?
Es gibt viele Gründe dafür, warum eine HIV-Infektion in einigen Fällen erst sehr spät diagnostiziert wird. Das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit, Pflege und Prävention fasst dies in einer Veröffentlichung aus dem Jahr 2019 (siehe „STI auf Tour – Report zu sexuell übertragbaren Krankheiten im Jahr 2019“, S. 31) folgendermaßen zusammen:
- Ausblendung durch die behandelnden Ärzte und Ärztinnen (Patienten und Patientinnen passen nicht in bekannte Kategorien)
- Menschen werden durch bestehende Testangebote nicht erreicht oder fühlen sich nicht angesprochen
- Verdrängung oder Unwissen eines tatsächlichen persönlichen Risikos
- fehlende Befragung zur gelebten Sexualität in der ärztlichen Sprechstunde
- Angst vor Stigmatisierung und Ausgrenzung bei positiver Diagnose
Wen betreffen HIV-Spätdiagnosen am häufigsten?
Eine Übersichtsstudie kam zu folgendem Ergebnis, auf die Frage, welche Menschen besonders häufig späte HIV-Diagnosen erhalten: In Deutschland betrifft dies mit höherer Wahrscheinlichkeit ältere Menschen, Heterosexuelle und Migrantinnen und Migranten, die mit HIV leben. Die späten Diagnosen bei Männern, die Sex mit Männern haben (MSM) gehen schon seit einiger Zeit zurück.
Sowohl bei den Ursachen als auch bei den am meisten betroffenen Gruppen spielen zudem weitere Gründe eine Rolle. So zählen zum Beispiel das befürchtete Stigma der Erkrankung, fehlende Sexualanamnesen, fehlendes Wissen über Testung, Diagnostik und Therapie in der Bevölkerung, aber auch eine gewisse Zurückhaltung auf ärztlicher Seite, Themen zur Sexualität anzusprechen, zu den häufigsten Gründen für eine späte HIV-Diagnose.

Hausärztliche Praxen würden eine zentrale Rolle spielen
Hausärztliche Praxen haben eine zentrale Rolle in der primär ärztlichen Versorgung, das heißt, dass sie häufig und aus verschiedensten Gründen von Betroffenen in Anspruch genommen werden. Die sogenannte FindHIV-Studie konnte belegen, dass die hausärztliche Praxis bei 40,2 Prozent der Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer die Stelle für den ersten und entscheidenden HIV-Test war (siehe auch Valbert, Frederik & Wolf, Eva & Preis, Stefan & Schellberg, Sven & Schewe, Knud & Hanhoff, Nikola & Mück, Birgit & Kögl, Christine & Lauscher, Paul & Wasem, Jürgen & Neusser, Silke & Neumann, Anja. (2021). Understanding and avoiding late presentation for HIV diagnosis – study protocol of a trial using mixed methods (FindHIV). AIDS Care. 33. 1-5. 10.1080/09540121.2021.1874276.). Gleichzeitig gibt es immer noch zu viele Gelegenheiten, in denen diese Chance verpasst wird.
Gründe dafür decken sich mit den oben genannten Gruppen, die am häufigsten von Spätdiagnosen betroffen sind. Des Weiteren besteht immer noch eine gewisse Scham, über Sexualität und mögliche sexuelle Risiken zu sprechen oder auch Unsicherheit auf beiden Seiten, in welchen Fällen und bei welchen Symptomatiken ein HIV-Test angeboten werden soll.
Derzeit werden unterschiedliche Lösungsansätze erarbeitet, um diese Situation zu verbessern und die Awareness, also das Bewusstsein der niedergelassenen Ärzte und Ärztinnen für das Thema zu erhöhen. Ein Ansatz der Deutschen Aidshilfe, der schon länger erfolgreich in die Praxis umgesetzt wurde, sind Fortbildungen für medizinisches Personal sowie spezielles Informationsmaterial.
Eine Befragung der Deutschen Aidshilfe (DAH), zusammen mit dem Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ), „positive stimmen 2.0“ hat gezeigt, dass die Lebensqualität von Menschen mit HIV weniger unter der Krankheit selbst, als unter den immer noch bestehenden Vorurteilen und erlebter Diskriminierung leidet. Hier könnte die Entstigmatisierung ebenfalls einen positiven Beitrag zur Senkung der Spätdiagnosen darstellen und wäre ein wichtiges gesellschaftliches Ziel.
Die Zahl der späten HIV-Diagnosen kann und soll gesenkt werden – für die Gesundheit und das Wohl der Betroffenen und der ganzen Bevölkerung.

PS. Die bayerischen HIV-Testwochen finden jährlich im November statt. Testen lassen kann man sich aber das ganze Jahr und das ist mit Sicherheit besser! 😉